Einmal die Escape-Taste, bitte

Ganze fünfeinhalb Wochen hat er auf sich warten lassen: mein erster Moment der Überforderung. Die Situation, aus der heraus er entstand, war eigentlich komplett banal. Es ging lediglich um das Suchen und Finden eines Taxis am Bahnhof von Delhi, kurz nachdem wir zu später Stunde mit dem Zug aus Haridwar eingetrudelt waren. Leider mit 45 Minuten Verspätung, was in meinem Fall bereits eine gewisse Grundanspannung bewirkte, weil ich mich mental darauf eingestellt hatte, allerspätestens um Mitternacht im Bett zu liegen.

Merke N°1: Keine falschen Erwartungen.

Generell sind Bahnhöfe in Indien kein entspannter Ort zum Verweilen. Noch weniger nachts. Und ich, die ich weder ein großer Freund von Dunkelheit noch Menschenansammlungen noch Männerüberschuss bin (beste Voraussetzungen für Indien), hatte nur ein Ziel im Kopf: Weg! Und das bitte so schnell wie möglich. Anfangs sah es auch ganz danach aus, als würde sich dieser Wunsch reibungslos realisieren lassen.

Merke N°2: Nie zu früh freuen.

Ich bestellte ein Taxi über Uber (als weibliches Wesen nachts den normalen Rikschas vorzuziehen, da sicherer, da nachverfolgbar). Voraussichtliche Wartezeit: acht Minuten. Tatsächlich kam der Fahrer auch kurze Zeit später am Bahnhof an, nur leider am falschen Ende. Da es wenig Sinn macht, an einem weitgehend unbekannten Ort orientierungslos in der Dunkelheit herumzutapsen, suchte ich nach einem vertrauenswürdig erscheinenden Menschen, der Hindi spricht und dem Fahrer erklären kann, wohin er fahren muss. Problemchen bei der Realisation dieses Vorhabens: Um mich herum nur wartende Rikscha-Fahrer, kein Shopbesitzer, kein Polizist, keine Frau. Ein junger Mann, der sich schließlich fand, sagte, ich solle bleiben, wo ich bin, der Fahrer komme. Wieder warten, zähe Minuten, kein Taxi in Sicht. Zwischendurch immer wieder heranrückende Menschen und Fragen, ob man nicht eine Rikscha nehmen wolle. Nein, will man nicht. Zunehmend verzweifelter Blick aufs Handy und zunehmend genervter, weil sich das Auto nicht von der Stelle bewegt (praktischerweise lässt sich auf Uber die Position des Taxis einsehen). Nach knapp 30 Minuten ohne erkennbaren Fortschritt kam Antjes Fahrer (die Teilnehmerin aus unserer Gruppe, mit der zusammen ich in Haridwar war). Ich bat ihn, meinen Fahrer anzurufen, ihm noch einmal zu erklären, wo wir sind. Der Gute, ebenfalls minimal überfordert und genervt, sprach mit ihm, nach meinem Empfinden etwas zu ruppig, das Wort „canceln“ fiel, der Fahrer legte auf und bat uns einzusteigen. Antje sagte, das sei okay. Ich war komplett verwirrt, wollte weder einsteigen noch meine bestellte Fahrt stornieren, ehe ich nicht wusste, dass Fahrer Nummer zwei bereit war, den gut 15-minütigen Umweg zu fahren und mich in meinem Hotel abzusetzen. Dieser wiederum reagierte nicht wirklich, brummte vor sich hin, schaute immer wieder in seinen Spiegel oder in der Gegend herum. Hinter uns nachrückende Autos. Hupen. Um nicht länger den Weg zu versperren, stieg ich schließlich ein, er fuhr los, ich bat ihn zu halten, fragte noch einmal, ob er mich zum Hotel fahren könne, er brummte, setzte erneut zur Fahrt an, ich cancelte mit ungutem Gefühl mein bestelltes Taxi, zeitgleich rief mein eigentlicher Fahrer an, es ging hin und her, einprasselnde Informationen von drei verschiedenen Seiten (Antje, Fahrer eins, Fahrer zwei). Und das war's. Geduldsfaden. Überforderung. Schluss. Aus.

Merke N°3: Einatmen, Ausatmen. Wiederholen.

Bislang war ich eigentlich ganz gut darin, mich einfach treiben zu lassen, die Situationen anzunehmen, wie sie sind und vor allem nicht dagegen anzukämpfen. Das führt, wie man anhand dieser Zeilen erkennen kann, ohnehin zu nichts. Aber es gibt Momente, da mag das trotz besseren Wissens einfach nicht klappen, da bricht sich alles Hinuntergeschluckte und Angestaute seinen Weg an die Oberfläche. Und alles wird zu viel.

Das Gefühl der Anspannung mag mich seither auch nicht so richtig verlassen. Ich versuche noch zu orten, woher es kommt, aber ich vermute, es liegt an der Reizüberflutung. An den vielen Eindrücken, die verarbeitet werden wollen. Am unterbewussten Sich-Herauswinden-Wollen. Weg von dem Krach, dem Chaos auf den Straßen, dem Gedränge, dem Gestank nach Verdorbenem, nach Schweiß, nach Urin. Dann die vielen Tiere überall. In einem Zustand zwischen tot und irgendwie lebend. Die vielen Menschen auf der Straße, die schieben und schubsen, die Kinder, in Fetzen, manchmal ganz nackt, staubig, mit verfilzten Haaren und Hungerbäuchen. Die Blicke, oft starrend, manchmal anzüglich. Die Männer, das permanente Aufpassen-Müssen, Abstand zu halten, nicht angefasst oder verfolgt zu werden, nicht fotografiert zu werden, nicht aus Versehen angespuckt zu werden (was glücklicherweise nicht gegen mich persönlich gerichtet ist, sonderlich lediglich vom Betelkauen kommt, eine unschöne Manier, die zu unzähligen rotbraunen Flecken auf öffentlichen Plätzen und noch mehr Spuck-Verbotsschildern führt). Und dann im nächsten Augenblick die vielen schönen Kleinigkeiten, die einen alles Unschöne vergessen lassen. Versteckte Orte. Neue Entdeckungen. Liebe Menschen, die einen mit einer solch aufrichtigen Freude anstrahlen, dass das Herzchen ganz warm wird, die in aufrichtiger Sorge um mein Wohlergehen sind, mir Essen anbieten, mir helfen möchten. Gegensätze. Jeden Tag. Immer wieder. Aber das wusste ich ja vorher schon.

Merke N°4: Alles wird gut.

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