Vom Leben mit Tigern


Vier Tage habe ich im großen Nichts verbracht, inmitten der indischen Sundarbans im Golf von Bengalen, auf einer von über einhundert Inseln im Delta des Ganges, umgeben von nahezu nichts als Wasser und Mangroven. Die (frei übersetzt) schönen Wälder sind bekannt für die einzigartige Natur und die im ganzen Land so präsenten Konflikte zwischen Mensch und Tier. Und damit spreche ich weniger von Kollisionen mit Kakerlaken, sondern hauptsächlich von Elefanten und im Fall der Sunderbans von Bengalischen Tigern, die zwischen den Inseln hin- und herschwimmen und sich auf ihren Touren gelegentlich in umliegende Dörfer verirren. Oder aber, was sehr viel gefährlicher ist, von Menschen, die sich auf der Suche nach Holz und Nahrung in den Wald alias das Revier der Raubkatzen begeben und so automatisch zu potentieller Beute avancieren. Vor allem letzteres endet meist für einen von Beiden tödlich. Dank Entwicklungsarbeit und Nylonnetzen entlang der Ufer aber haben Begnungen dieser Art in den letzten Jahren nachgelassen. Und eben darüber habe ich vor zu berichten und begab mich für die Recherche zu einem Naturschutzprojekt in die Sundarbans. Natürlich auch in der leisen Hoffnung, aus sicherer Entfernung einen Tiger wahrhaftig zu Gesicht zu bekommen. Um direkt jegliche Spannung vorweg zu nehmen: Es war mir nicht vergönnt. Dafür jedoch sah ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Krokodil in freier Wildbahn, das am sonnigen Flussufer dem "Dolce Vita" frönte, und einen Kingfisher (zu Deutsch: Eisvogel), der auch die Flaschen der gleichnamigen indischen Biermarke ziert.




Den König der indischen Wälder sah ich lediglich in Form bunter Tonskulpturen in den kleinen Tempeln der Inseln, die sowohl ihm selbst gewidmet sind als auch der der lokalen Gottheit Bonbibi. Die Hüterin des Waldes wird von hinduistischen und muslimischen Holzfällern, Jägern, Honigsammlern und Fischern gleichermaßen angebetet, just bevor sie in den Wald gehen und beschützt sie dem Glauben nach vor Angriffen durch Tiger.


Die Tage selbst waren schön und erholsam, für die Recherche allerdings nicht so ergiebig wie erhofft. Zum einen machte uns das Wetter einen Strich durch die Rechnung. Durch Regen und Nebel konnten wir nur einen kleinen Teil der ursprünglich angepeilten Inseln besuchen und verbrachten sehr viel mehr Zeit im Camp oder auf Deck des Bootes als geplant. Zum anderen war der Ansprechpartner, der mir während meines Aufenthaltes zur Seite stand, eine harte Nuss und für die Recherche nicht sonderlich förderlich. Er war zwar physisch anwesend, geistig jedoch eher weniger, dazu äußerst wortkarg, mitunter reserviert und gefühlt desinteressiert. Erschwerend hinzu kam, dass er meine einzige verbale Brücke zu den Menschen vor Ort war, Kontakte und Interaktionen aber gering hielt und viele meiner Fragen nur rudimentär übersetzte und zum Schluss anstelle der Dorfbewohner lieber selbst antwortete. Was lerne ich daraus? Immer einen unabhängigen Dolmetscher mitnehmen. Es ist jedoch nicht alle Hoffnung verloren. Denn glücklicherweise habe ich viele der Gespräche aufgezeichnet. Anfangs lediglich, um die Namen der Menschen auf Band zu haben, später aus zunehmendem Misstrauen. Das ist berufsethisch gesehen nicht einwandfrei, aber leider war es meine einzige Möglichkeit, nachträglich zu verstehen, worüber tatsächlich geredet wurde.

Frau beim Angeln und Huhn beim Spazieren

Seite an Seite: Frachter, Fischer- und Touristenboot

Und, dank meines Ansprechpartners, der einen ganz wunderbaren Stereotyp Mann abgab, kann ich an dieser Stelle auch noch einmal an meinen letzten Eintrag anschließen. Die ganze Zeit während meines Besuchs habe ich überlegt, an wen oder was er mich erinnert. Am Morgen der Abreise dann, als ich grübelnd im Bett lag und die Erlebnisse der vergangenen Tage durch meinen Kopf sausten, fiel es mir wie Schüppchen von den Augen: an einen Gorilla. Die Art, wie er über Schiffe, Köpfe oder Hütten hinweg durch die Gegend brüllt, wie er sich von einem Schiffsjungen seinen Fuß inspizieren lässt, wie er mit hinter dem Rücken verschränkten Armen und vorgestrecktem Bauch durch die Gegend schreitet, immer wieder betonend, wie sehr ihn die Menschen im Dorf mögen, wie er ein Mädchen aus Spaß erst in den Würgegriff nimmt und später an den Haaren vom Boden hochzieht. Dazu die tiefliegenden, dunkel umrandeten Augen, der grimmige Blick und die zwischen den Brauen gerunzelte Stirn, das Schmatzen beim Essen und das lautstarke Entweichen sämtlicher Gase danach. Seine Frau lebt seit Jahren nicht mehr mit ihm auf der Insel, sondern in einer Stadt auf dem Festland und besucht ihn maximal einmal pro Quartal. Und in einer offenen Minute gestand er mir, wie sehr er unsere westliche Freiheit mag und die Möglichkeit, eine neue Liebe zu finden. Womit er, so nehme ich an, durch die Blume von sich selbst sprach und was vielleicht auch der Grund für sein Gebaren und seinen Unmut ist. Damit wären wir dann auch wieder beim Konzept der einsamen Männer, das ich bereits einmal erörterte. Lang, lang ist's her.

Anlegestelle auf der Insel Satjelia

Frauen in der Nähe der indisch-bangladeschichen Grenze

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