Im Santal-Dorf


Es gibt Momente, die entschädigen einen für vieles Unschöne, verfrachten alles Unerfreuliche in weit entfernte Gehirnareale und lassen keinen Platz für Trübsal. Die Zeit in Shantiniketan war ein solcher Moment. Beziehungsweise eine Aneinanderreihung vieler solcher Momente verteilt auf drei Tage. Wie vermutet und erhofft war der Ausflug eine Wohltat fürs Gemüt und eine Rückkehr zum Frohsinn.

In der kleinen Stadt nördlich von Kalkutta, die für Literatur-Nobelpreisträger Rabindranath Tagore und die von ihm gegründete Visva-Bharati-Universität bekannt ist, lebt seit 37 Jahren Autor Martin Kämpchen, mit dem ich über einen Verleger in Kontakt gekommen bin, der mir wiederum von Suvojit, meinem derzeitigen Chef, vorgestellt wurde. Es geht nichts über gesundes Vitamin B. Ich hatte bereits zuvor einige Male von Martin Kämpchen gehört und gelesen. Für viele Menschen hier ist er eine Art Volksheld. Und egal, wen man zwischen Kalkutta und Shantiniketan fragt, er ist den meisten ein Begriff. Zum einen wegen seiner Übersetzungen der Tagore-Werke, zum anderen wegen der Bildungs- und Entwicklungsarbeit, die er seit den 1980er Jahren in zwei Santal-Dörfern unweit von Shantiniketan leistet. Und in ebenjenen habe ich die letzten Tage verbracht.
 
Einige der Schulkinder beim Fußballturnier

Die Santals sind mit fast 6,5 Millionen Menschen einer der größten Volksstämme der Adivasis, der Ureinwohner Indiens. Sie leben am Rande der Gesellschaft, sowohl außerhalb als auch unterhalb des hinduistischen Kastensystems, und gehören zu den ärmsten Menschen des Landes. Das jedoch ausschließlich ökonomisch gesehen. Dass Martin Kämpchen sich genau für diese Bevölkerungsgruppe einsetzt, war eher dem Zufall geschuldet. Er lernte damals einen Bewohner des Dorfes Ghosaldanga kennen, sie freundeten sich an, er half ihm beim Bau einer Hütte unter der Bedingung, dass dieser im Gegenzug eine Abendschule für die Dorfkinder startet, eines kam zum anderen, und so gibt es heute in der Gegend eine Tagesschule, die derzeit etwa 110 Kinder besuchen, ein Wohnheim für Jungen und eines für Mädchen, fünf Abendschulen in fünf verschiedenen Santal-Dörfern, Initiativen für biologischen Landbau und einiges mehr.

Der Weg in das Dorf Ghosaldanga

Aber noch einmal kurz zurück auf Anfang. Wie mit Martin Kämpchen ausgemacht, begab ich mich am Sonntagmorgen zum Bahnhof von Howrah, auf der anderen Seite des Hooghly-Flusses, um ihn dort zu treffen und zusammen mit ihm im Shantiniketan Express nach Shantiniketan zu reisen. Martin Kämpchen war des Morgens frisch aus Deutschland eingeflogen, ich hatte das Privileg genossen, einigermaßen ausgeschlafen vom The-Hindu-Fahrer Zuhause abgeholt und zum Bahnhof chauffiert zu werden. Was mein Chef, nett und fürsorglich wie er ist, noch am Vorabend für mich organisiert hatte und was natürlich um einiges entspannter war, als unter Zeitdruck ein Taxi zu suchen. Am Bahnhof stolperte ich dann mehr oder weniger zufällig am Gleis in Martin Kämpchen hinein und stellte erfreut fest, dass wir, anders als angenommen, sogar im selben Abteil reisten, was aus professionell journalistischer Sicht praktisch war, da wir so schon während der Fahrt ein wenig plaudern konnten. Manchmal fügen sich die Dinge ganz von alleine.

Trocknende Kuhfladen mit Echse

Getrocknete Kuhfladen zum Verfeuern

Nach dem nunmehr dritten Ausflug auf Schienen kann ich mit Überzeugung sagen: Ich mag Zugreisen in Indien. Es ist ein Erlebnis für sich. Fahrende Händler sorgen für durchgehende Verpflegung, so dass man den Notfall oder Versorgungsengpässe nicht zu fürchten braucht, es gibt Süßes, Salziges, Tee, Kaffee, Wasser, Saft, bei Bedarf auch Bücher oder Nagelknipser, Kämme, Kopfmassagegeräte und andere Utensilien des täglichen Bedarfs. Und auf dieser speziellen Zugfahrt dazu noch kulturelle Unterhaltung durch Baul-Sänger, bengalische Volksmusiker. Nach der Ankunft in Shantiniketan, einer schnellen Tasse Tee in Martin Kämpchens (von seinen Nachbarn so getauftem) Dschungelhaus, dem Einchecken in meinem Gartenhäuschen zwei Querstraßen weiter und einem kleinen Snack ging es für mich direkt weiter nach Ghosaldanga, in das Dorf, in dem damals alles begann. Jedoch ohne Martin Kämpchen, weil er sich zunehmend aus dem Alltäglichen zurückziehen und den Bewohnern selbst das Handeln überlassen möchte.

Aber ich hatte nette Begleitung in Form von Kartick, einem stets lächelnden, von innen heraus strahlenden Menschen (wie so viele hier), der für meinen täglichen Transfer ins Dorf verantwortlich war und mich tags wie nachts sicher über unbefestigte Wege, Schlaglöcher, Stock und Stein fuhr. Und der mit Eifer versuchte, die Verständigungsschwierigkeiten zwischen uns zu überwinden, indem er mir Wörter und Sätze auf Bengali beibrachte, womit er jedoch kläglich scheiterte, weil ich das meiste bereits binnen weniger Sekunden wieder vergaß. Das einzige, woran ich mich erinnern kann ist: Ami Jessika. Ich heiße Jessika. Und: Ami cha khabo. Ich werde Tee trinken. Optimale Grundlage für einen Smalltalk.

Morgengebet in der Schule

Im Dorf selbst wurde ich vom ersten Moment an herzlich aufgenommen, begrüßt, vorgestellt, herumgeführt und nach einer anfänglichen Schüchternheit von den Kindern belagert, die ganz fasziniert von meiner Kamera waren und sich wie die Kullerkekse über unsere Selfies gefreut haben. Herzerwärmend. Schlicht und einfach.

Anders als gedacht habe ich tatsächlich fast jede freie Minute bis zur Schlafenszeit im Dorf verbracht. Am Sonntag war ich bis Sonnenuntergang (der hier bereits gegen fünf Uhr ist) beim lokalen Fußballturnier und plumpste nach einem leckeren bengalischen Abendessen wie ein Stein ins Bett. Der Montag startete zunächst etwas holprig um fünf Uhr in der Früh, mit kaltem Wasser aus der Dusche und dem Aufeinandertreffen mit einer verirrten Shantiniketan-Schabe (es verfolgt mich, aber so entwickle ich mich allmählich zur Meisterin im Schabenfangen, man muss es ja irgendwie positiv sehen). Er wurde aber umso schöner, als ich erst einmal in der Schule ankam, Zeit mit Kindern und Lehrern verbrachte und als Jessika Di, die ältere Schwester, offiziell in die Gemeinschaft aufgenommen wurde, und er endete (nach einer etwas traurigen Kondolenzfeier für eine kürzlich verstorbene Mitarbeiterin) mit einem gemeinsamen Abendessen.

Den Morgen vor der Abreise schließlich, den ich eigentlich (da mir so viele Menschen im Vorfeld davon vorgeschwärmt hatten) für einen Besuch der Tagore-Universität nutzen wollte, fuhr ich noch einmal ins Dorf, um den Schulgarten und die landwirtschaftliche Arbeit zu begutachten. Diese Planänderung war aber aus freien Stücken mitinitiiert und alles andere als schlimm. Und sie lässt für mich mindestens einen Grund, eines schönen Tages nach Shantiniketan zurückzukehren. Und das habe ich vor.

Die schuleigene Honigproduktion

Pausenlos nörgelnde Schulkatze

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