Raus aus der Stadt


Es fühlt sich an wie einmal Indien im Schnelldurchlauf, wie ein einziger Tag und eine kleine Ewigkeit zugleich. Seit gut einer Woche bin ich nun hier. Gerade einmal oder schon. Wie man es nimmt. Die vielen Erlebnisse der vergangenen Tage allesamt wiederzugeben, würde wohl ausufern. Daher setze ich bei unserem letzten Ausflug an, der uns am Freitag nach Mamallapuram führte, auch bekannt als Mahabalipuram oder kurz Mahab, einem Küstenort südlich von Chennai, der eine der bedeutendsten Tempelanlagen Südindiens beherbergt.

Leider fiel die Fahrt auf den frühen Nachmittag, weshalb uns für den Besuch nur wenige Stunden blieben, was bei einem Ort wie diesem fast zu wenig ist, und vom Timing her generell suboptimal, da nach dem Mittag die ohnehin schon hohe Temperatur und Luftfeuchtigkeit noch einmal ordentlich anziehen. Was für Aktivitäten im Freien widerum bedeutet, dass spätestens dann jegliche Duschfrische endgültig passé ist und alles nur noch klebt. Von der Schicht Sonnencreme, von der Extra-Schicht Mückenschutz und vom Schwitzen. Und mit Schwitzen meine ich keine Miniatur-Schweißperlchen auf Stirn und Oberlippe, sondern richtiges Schwitzen. So sehr, dass einem das Wasser in Rinnsalen den Rücken hinunterläuft, dass es sich an den Ohrläppchen, in den Haaren und auf der Nasenspitze sammelt, bis es anfängt zu tropfen. In Mamallapuram drang es schließlich durch den Stoff meiner Hose. An den Knien. Eine gänzlich neue Erfahrung.

Relief des Gottes Shiva in der Varaha-Höhle von Mamallapuram

Das als kurzer Exkurs zu den klimatischen Herausforderungen des Alltags. Zurück zu Mahab: Der Tempelbezirk entstand zwischen dem 7. und 9. Jahrhundert und erfreut heute wohl jedes Archäologen- und Historikerherz. Unsere Dozentin Chithra Madhavan, die uns zuvor schon in die südindische Tempelarchitektur eingeführt hatte, hat uns in jedem Fall mit einer wahnsinnigen Begeisterung von all den Hintergründen, den hinduistischen Göttern und ihren Mythen erzählt. Da ich selbst nicht über die Gabe verfüge, mir Daten und Namen sonderlich gut zu merken, bleiben euch an dieser Stelle detaillierte Informationen erspart. Nur so viel: Bekannt sind die Tempel, Skulpturen und Reliefs in Mahab vor allem wegen ihrer Steinmetzarbeit. Bis auf den Küstentempel, der als einer der ältesten tatsächlich "gebauten" Tempel in Indien gilt, wurden alle (Bau)Werke aus einem Stück Granit geschlagen. Entweder direkt in den Felsen hinein oder aus einem großen Monolithen heraus. Wie genau die Menschen das damals geschafft, weiß man nicht.

Mahisha-Mardini-Höhle mit Relief der Göttin Durga

Der neue Leuchtturm in Mamallapuram

Heute reiht sich in den Straßen um die Tempelanlage herum Souvenirshop an Souvenirshop, die meisten davon Steinmetzwerkstätten, die den Touristen ihre steinernen Mitbringsel feilbieten. Solltet ihr also nach (über)lebensgroßen Ganeshas oder anderen Götterstatuen für Balkon und Vorgarten suchen, ist Mahab euer Place-to-be. Und so ironisch, wie es klingen mag, ist es gar nicht gemeint. Die Stadt lohnt defintiv einen Besuch. Für den Fall, dass ihr einmal ums Eck seid.

Einkaufsstraße vor dem Tempelbezirk

Nach dem "Pflichtprogramm" haben Natalie (eine Journalistin aus der Gruppe) und ich dann die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und sind, da wir ohnehin schon außerhalb Chennais waren, weiter nach Puducherry, ehemals Pondicherry oder kurz Pondy, gefahren. Ursprünglich war der Plan, sich Auroville anzuschauen, eine internationale 1968er Aussteigerkommune nördlich der Stadt. Am Ende hat die Zeit aber doch nur für einen Besuch Pondicherrys gereicht. Und zum Planschen im Pool, der zu unserer (im Vergleich zur üblichen Lebensweise) leicht dekadent angehauchten Unterkunft gehörte. Ich fühle mich auch minimal schlecht. Vor allem, weil wir erst tags zuvor einen ausführlichen Vortrag über die Wasserknappheit und die prekäre Wasserversorgung im Land gehört hatten. Ich könnte mich jetzt noch damit herausreden, dass das Meer aufgrund von Wellengang, Strömung und Schmutz nur eingeschränkt zum Baden geeignet ist. Aber irgendwie macht es das nicht besser ... okay, ich fühle mich mehr als minimal schlecht.

Unser Wochenendrefugium: Tanto Far Beach

Am Samstag sind wir mit dem Bus und Folkmusik aus den Lautsprechern in die Innenstadt gefahren. Mein erstes Mal öffentliche Verkehrsmittel in Indien. Die Busse hier sind, wie man es aus Film und Fernsehen kennt: voll. Aber nie voll genug, als dass nicht noch eine weitere Person hineinpassen würde. Zur Not schiebt sich der Ticketverkäufer mit seiner Pfeife durch den Bus, bugsiert Leute von einer Ecke in die andere und schafft so Zentimeter um Zentimeter Platz für neue Fahrgäste. Zwischenzeitlich fragte ich mich ernsthaft, wie wir es jemals wieder hinaus schaffen sollen, aber glücklicherweise stiegen an unserem Zielpunkt mehrere Menschen aus und machten eine Schneise zum Ausgang hin frei. In Pondicherry hatte ich dann etwas Ich-Zeit und streunerte ohne großes Ziel durch die Stadt, was nach einer Woche organisierter Gruppenaktivitäten durchaus wohltuend war.

Im Zentrum von Pondicherry: ein typisches Straßenbild in Indien

Pondicherry, die ehemalige Hauptstadt von Französisch-Indien, ist sehr viel kleiner als Chennai, ein bisschen weniger laut, aber weit entfernt von klein und beschaulich. Im französischen Teil der Stadt sind die kolonialen Einflüsse auch 60 Jahre später noch sichtbar. Straßen tragen nach wie vor Namen wie Saint Ange oder Saint Louis, es gibt ein französisches Lycée, Häuser im Kolonialstil, westliche Cafés und nach offensichtlich erfolgreicher Missionierung einige Kirchen und Kapellen.

Französisches Café im Stadtteil White Town

Straßenschild in Tamil und Französisch

Am Sonntag ging es dann mit dem Taxi zurück nach Chennai. Und die Rückfahrt eignet sich ganz hervorragend für einen weiteren Exkurs: den Verkehr in Indien. Jedes Mal, wenn ich hier eine unüberquerbar erscheinende Straße überquere, muss ich an eine Begegnung mit einer alten Dame in Bangkok denken, die mir vorführte, wie man am ehesten auf die andere Seite kommt, nämlich: eine ausreichend große Lücke abwarten (wobei "ausreichend" lediglich die (theoretische) Möglichkeit des rechtzeitigen Abbremsens bedeutet), Arm in Richtung Autos ausstrecken, Handfläche nach oben, rübergehen. Klappt fast immer.

Der Verkehr in Indien ist, so mein rein subjektives Empfinden, noch wilder als der thailändische Konterpart. Besonders zur Hauptverkehrszeit. Auf den Straßen drängen sich dicht an dicht Autos, Rikschas und Motorräder, Radfahrer und Fußgänger, Kühe, Ziegen und Hunde. Sofern ich das richtig gedeutet habe, gelten folgende Regeln: groß vor klein, schnell vor langsam, laut vor leise. Wobei die schmaleren Verkehrsteilnehmer dadurch im Vorteil sind, dass sie sich, wenn gar nichts mehr geht, links und rechts vorbeiquetschen können. Wenn nötig auch im Gegenverkehr. Dennoch scheint das Verkehrschaos eine gewisse Ordnung in sich zu tragen, und auf dem Rücksitz einer Rikscha hat man (zumindest meistens) das Gefühl, dass der Fahrer schon weiß, was er tut.

Rushhour in Chennai, ungewöhnlich geordnet

Nicht so am Sonntag. Die Fahrt war selbst für indische Verhältnisse, nennen wir es, besonders. Dank millisekundengenau getakteter Ausweich- und Überholmanöver sah ich uns einige Male bereits an der Windschutzscheibe von Bussen oder Lkw kleben, beziehungsweise Kühe und Motorräder an unserer. Tendenziell fuhr der Fahrer immer eine halbe Autobreite über dem Mittelstreifen, und wenn uns kleinere Verkehrsteilnehmer entgegenkamen, wich nicht er aus (siehe oben erwähnte Regeln), sondern der Gegenverkehr. Die von Google zuvor prognostizierten zweieinhalb Stunden für 130 Kilometer schafften wir so in etwas mehr als zwei. Wie diese Zeilen beweisen, habe ich es unversehrt nach Hause geschafft. Abgesehen von einem flauen Gefühl im Magen und einer Erkältung, die aber nicht auf die Fahrweise des Fahrers zurückzuführen ist.

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