Morgenspaziergänge


In den letzten Wochen habe ich es mehr als einmal herbeigesehnt, aber jetzt, wo es da ist, kommt es auf einmal doch sehr abrupt und viel zu früh: das Ende meiner Tage in Kalkutta. Im Nachhinein fühlt sich die Zeit wie ein Wimpernschlag an, wie einmal Schlafen und schwupp ist Weihnachten. Ich habe mir so vieles vorgenommen und so wenig geschafft. Zumindest gefühlt. Wenn ich einen Blick in meine Bildergalerie, in meinen Kopf und diesen Blog werfe, ist das Gegenteil der Fall. Fast drei Monate und so viele neue Eindrücke, so viele neue Gesichter, so viele neue Geschichten. Sehr wahrscheinlich braucht es noch einmal ebenso lange, um all das Neue zu verarbeiten.

Ein klares Bild über Kalkutta abzuliefern geschweige denn ein Resumée zu ziehen, mag mir zum jetzigen Zeitpunkt auch nicht gelingen. Alles, was dabei herauskäme, wären unzusammenhängende Gedankenfetzen. Von daher gebe ich den Versuch vorläufig auf und lasse an dieser Stelle lieber die Bilder für mich sprechen, die auf meinen "Pre-Work Sightseeing Tours" entstanden sind. Meine bereits in den ersten Tagen entwickelte Taktik, um eine wohltuende Routine in den Alltag zu integrieren und das Stresslevel zu minimieren. Natürlich ging der anfängliche Plan, jeden Morgen einen solchen Spaziergang einzuschieben, nicht auf. Mal war es die Wäsche, die gewaschen werden wollte, mal Recherchetermine, mal schlicht und ergreifend Müdigkeit. Einen kleinen Teil meiner persönlichen Sightseeing-To-Do-Liste konnte ich dennoch abhaken. Hier nun also für euch und mich eine kleine Auswahl und mein persönliches "Goodbye" an Kalkutta.

St. John's Church

Der Besuch der Kirche St. John's ist ein ganz vortreffliches Beispiel für den Sinn und Unsinn von Vorhaben. Mein eigentliches Ziel an dem Tag – es war, wenn ich mich recht entsinne, der Tag nach dem Ende des Lichterfests Diwali – war der Hooghly-Fluss, weil ich hoffte, noch ein paar der typischen Götterstatuen als Hinterlassenschaften am Ufer vorzufinden. An den Grund kann ich mich nicht mehr erinnern, aber ich war, wie so viele Male davor und danach, viel zu spät dran. Da ich die Laufentfernung zwischen Metro und Fluss noch nicht abschätzen konnte, entschloss ich mich also, in Nähe des Bürogebäudes grob die Richtung anzupeilen und stieß bei meiner Runde um den Block zufällig auf St. John's Church, eines der ersten öffentlichen Gebäude, das die britischen Kolonialherren in der Stadt errichteten und, wie mir im Anschluss von meinen Kollegen mitgeteilt wurde, letzte Ruhestätte von Job Charnock, dem vermeintlichen Gründungsvater Kalkuttas, über dessen Grab ich unwissentlich hinweggestiegen bin. Weil St. John's aber auch ohne historisches Hintegrundwissen so nett war, ließ ich an dem Tag das Wasser Wasser sein und sollte es tatächlich auch erst wenige Tage vor Abreise so richtig zu sehen bekommen. Die missglückten Folgeanläufe und Autofahrten über den Fluss nicht eingerechnet.


College Square

Ohne die Empfehlung meiner Kollegin hätte ich mich wahrscheinlich gar nicht oder erst sehr viel später in dieses Viertel verirrt. Und dabei ist der College Square durchaus bekannt. Vor allem als Intellektuellen-Plätzchen Kalkuttas. Mit vielen, wie der Name erahnen lässt, renommierten, hier ansässigen Colleges und Universitäten. Mit dem berühmten Ableger des Indian Coffee Houses, das, wenn man die Qualität des Kaffees als Maßstab nimmt, seinen Namen nicht verdient hat, aber aufgrund seines Ambientes dennoch einen Besuch lohnt. Mit Straßenzügen voll kleiner Verkaufsstände für neue und alte Bücher, bengalische und englische Bücher, Fachliteratur, Romane und Schmonzetten, die ich, hätte ich nicht schon kiloweise Bücher nach Deutschland exportiert, gern eingehender betrachtet hätte. Und mit ganz viel alternativer Straßenkunst. Damit schafft es der College Square, auch wenn ich das mit etwas Abstand noch einmal reflektieren muss, sicher unter die Top Five meiner favorisierten Orte in Kalkutta.

Straßenkunst im College Square

Die Presidency University

Studentenwohnheim der Presidency University

Buchstände im College Square

Das Indian Coffee House

Jorasanko Thakur Bari

Ende des 18. Jahrhunderts errichtetes Gebäude und ehemaliges Wohnhaus der Tagore-Familie. Der indische Nobelpreisträger für Literatur Rabindranath Tagore wurde hier geboren, hat einen großen Teil seiner Kindheit hier verbracht und ist hier gestorben. Heute liegt das Anwesen auf dem Gelände der Rabindra Bharati Universität und beheimatet ein Museum über Leben und Schaffen von Tagore. Vor dem Museum traf ich auf Syed aus Bangladesch, ein Mitglied des – wer hätte gedacht, dass es das gibt – National Peotry Councils, und seine Frau, die sich für ein Treffen zum indisch-bangladeschichen Literaturaustausch in Kalkutta aufhielten und mich um ein Foto baten. Die meisten Anfragen dieser Art sind mit einer gewissen Skepsis zu betrachten, da sie oft gleichbedeutend sind mit einem Foto von mir als Hauptattraktion. Die Beiden aber wollten tatsächlich nur ein Souvenir von sich vor Tagore aus Eisen. Und waren auch sonst ganz liebenswürdig. Kleine Begegnungen dieser Art gab es unzählige, und oft bedurfte es nicht einmal vieler Worte, um einen kurzen Moment der Freude in das Leben eines anderen Menschen zu bringen. Oder in meines.

Innenhof des Museums

Hund mit Gespür für Ästhetik

South Park Street Cemetery

Einer der ersten nicht-kirchlichen Friedhöfe der Welt, 1797 eröffnet und etwa 40 Jahre später aufgrund von Platzmangel wieder geschlossen, heute unter Denkmalschutz stehend, mit 1.600 Gräbern im gotischen oder so genannten indo-sarazenischen Stil, der Elemente aus der islamischen Archtitektur aufgreift. Auch für den Fall, dass es etwas morbide klingen mag, aber es ist ein wirklich schönes, ruhiges und geheimnisvolles Fleckchen inmitten eines sehr belebten Viertels. Und diese Ansicht teile ich mit vielen indischen Pärchen, die sich gern an Orten wie diesen treffen, um vor den Augen der Öffentlichkeit unbehelligt Händchen zu halten, zu kuscheln oder andere Zärtlichkeiten auszutauschen. Das wirkt mitunter etwas befremdlich, hat aber auch etwas sehr berührendes.

Alte Gräber mit Werbetafeln der Park Street im Hintergrund

Amouröse Schmetterlinge

Amouröse Menschen

Acharya Jagadish Chandra Bose Indian Botanical Garden

Lange vor meiner Ankunft in Kalkutta habe ich von dessen Botanischen Garten gehört. Grund hierfür sind nicht etwa die über 12.000 exotischen Pflanzenarten, die hier wachsen und gedeihen, sondern genau ein Baum im hinteren Teil der Anlage: The Great Banyan Tree. Der Banyanbaum, seines Zeichens Nationalbaum von Indien, ist überall im Land in verschiedenen Größen und Formen zu bewundern. Das Exemplar in Kalkutta jedoch übertrumpft die meisten anderen in Indien und vermutlich in Asien generell. Obwohl durch zwei Zyklone stark beschädigt, hat der Baum die letzten 250 Jahre überlebt und sich über seine Verästerlungen immer weiter ausgedehnt. Heute zählt er 3.772 Luftwurzeln, seine Krone misst 486 Meter im Umfang und seine höchste Stelle 24,5 Meter (Stand: 2015).

The Great Banyan, viele Äste, ein Baum

Leider war der Baum großräumig umzäunt, so dass ich nicht darunter hindurchschreiten konnte, und leider musste ich den Aufenthalt auf ein Minimum begrenzen, da sich kurz vor Erreichen des Baumes zwei Männer entschlossen, mir zu folgen. Erst in einigem Abstand hinter mir, dann zunehmend dichter und aufdringlicher. Am Baum selbst schlenderten sie immer wieder an mir vorbei, vor-zurück, vor-zurück, wenn ich stehen blieb, blieben auch sie stehen, wenn ich ging, folgten sie. Das Spiel ging so lange, bis mir irgendwann der Geduldsfaden riss und ich ihnen mitteilte, sie sollen damit aufhören und mich in Ruhe lassen. Der größere der Beiden und offenbar Initiator des Ganzen, zischte daraufhin irgendetwas auf Bengalisch, rückte noch näher an mich heran, ich schob mich vorbei, sagte wieder, sie sollen verschwinden und ging weiter in Richtung eines Gartenmitarbeiters, den ich in geringer Entfernung ausgemacht hatte. Die Männer folgten erneut, überholten, ich blieb stehen, um den Abstand zwischen uns zu vergrößern und dachte zunächst, die Sache sei damit erledigt. Dann aber blieben sie am anderen Ende des Banyan-Rundwegs stehen, so dass ich ihren Weg zwangsläufig kreuzen musste. Also sprach ich den Gartenmitarbeiter an und sagte ihm, dass ich verfolgt würde. Nach einigen Anläufen verstand er endlich und fuhr mit seinem Fahrrad in Richtung der Männer. Da an Entspannung nach diesem Intermezzo nicht mehr zu denken war, begab ich mich so direkt wie möglich zum Ausgang, kleine Pfade meidend und mich immer wieder umblickend. Und wie soll es anders sein, wer wartete auf mich, als ich dort eintraf? Richtig. Meine unerwünschten Weggefährten. Trotz der Menschen, die uns umgaben, klopfte das Herz wie verrückt und die Brust schnürte sich zu. Und dieses ungute Gefühle haftete mir noch eine ganze Weile an. Selbst als ich im Taxi saß, selbst als ich sicher sein konnte, dass mir niemand mehr folgte. Schön ist anders.

Von Prinsep Ghat zum Millenium Park

Nach diesem unschönen Ausgang des Botanischen-Garten-Ausflugs entschied ich spontan, die Arbeit erst einmal Arbeit sein zu lassen, es war ohnehin einer der letzten Tage, einen weiteren Punkt auf meiner Sightseing-To-Do-Liste anzupeilen und endlich am Fluss entlangzuspazieren. Ich war nach wie vor nicht sicher, ob das möglich sein würde, da Google Maps keine Route ausspuckte, entdeckte dann aber voller Freude, dass vom Prinsep Ghat ein ausschließlicher Fußgängerweg zu meinem Arbeitsviertel führte. Welch Entspannung! Definitiv einer der Orte, die ich gern früher entdeckt hätte.

Vidyasagar Setu, die längste Schrägseilbrücke in Indien

Uferpromenade mit Krokodil-Mülleimer

Blick auf den Hooghly-Fluss

Traditionelle Anlege- und Badestelle

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