Die letzten Tage waren lang, die Nächte kurz und der Schlaf durchwachsen. Mein Gehirn ist dermaßen überflutet und übermüdet, dass ich mich teilweise wie in Watte gepackt fühle und mich wirklich anstrengen muss, um die ganzen Bilder, die vielen Erzählungen und Erlebnisse zu ordnen und zu rekonstruieren, was wann wo passiert ist. Am Donnerstag und Freitag, und eigentlich auch die Tage zuvor, waren wir von morgens bis abends "on the
road". Erst waren wir in der Kalakshetra Foundation, einer Schule für
traditionellen indischen Tanz, haben uns dort das Morgengebet angeschaut
und einen Blick in die Tanzklassen geworfen, dann ging es weiter zum Kapaliswarar-Tempel, dann kurz zum Mittagessen ins College, dann auf eine Tour zum Buckingham Canal, an dessen Ufern entlang sich die Slum-Gebiete Chennais erstrecken, und am Abend waren wir zum Essen bei Radhika, einer der indischen Teilnehmerinnen, eingeladen.
Gestern stand ein Ausflug nach Kanchipuram auf dem Plan, der – auch aufgrund der vorangegegangen Unternehmungen und damit verbundenen Verfassung – ziemlich kräftzehrend war. Vor allem aber wegen des bereits umfassend beschriebenen indischen Fahrstils und wegen des Weges, der über viele unbefestigte Straßen und etliche Schlaglöcher führte. Vermutlich war der
Zustand der Straßen im Vergleich zu vielen anderen noch tiptop in
Ordnung. Das änderte aber nichts an dem Gefühl des Durchgeschütteltseins
und den Nackenschmerzen im Anschluss.
Aber ich möchte nicht nur lamentieren. Denn unser Ziel an diesem Tag, Kanchipuram, war wirklich interessant und aller Wehwehchen zum Trotz eine Reise wert. Die Stadt ist nicht nur eine der wichtigsten hinduistische Pilgerstätten. Mindestens genauso bekannt ist sie für ihre traditionell hergestellten Saris. Die Seidenstoffe und die Webkunst waren auch der eigentliche Grund für unseren Besuch und haben mein Modeschneider-Herz natürlich im besonderen Maße erfreut. Als erstes haben wir uns eine alteingesessene Werkstatt angeschaut, in der die etwa fünf Meter langen Tücher hergestellt werden. Für einen einfachen, ungemusterten Sari braucht ein Weber 10 bis 15 Tage – bei einer Arbeitszeit von zwölf Stunden –, für einen aufwändigeren Sari 20 bis 25 Tage.
|
Seidenfäden mit einem Rand aus echtem Gold |
|
Ein Weber bei der Arbeit |
|
Webmuster für Sari-Stoffe |
Als ich den Webern so über die Schulter blickte, musste ich
unweigerlich an das Indien-Buch von Ilja Trojanow denken, das ich noch vor der Abreise
las und in dem er von den Webern in (soweit ich mich recht erinnere)
Varanasi erzählt, die als Gleitmittel für ihre Webschiffchen die
staatlich verteilten Kondome verwenden. Aus Kostenspargründen und aufgrund der besseren Qualität des Gleitmittels. Eine Geschichte, der auf den
Grund zu gehen sich durchaus lohnen könnte.
|
Die berüchtigten Webschiffchen und ein Stück fertiger Sari |
Im Anschluss an die Weberei haben wir einen Ort besucht, an dem die Rohseide gewaschen, gebleicht und schließlich gefärbt wird.
|
Erster Schritt: Waschen der Rohseide |
|
Zweiter Schritt: Bleichen |
Die Arbeitsbedingungen sind, sagen wir, bescheiden. Bis auf zwei Männer
in (einseitig getragenen) ellenbogenlangen Gummihandschuhen habe ich keinen Arbeiter gesehen, der
irgendeinen Schutz trug. In den Verschlägen, in denen die Stoffe eingefärbt
werden, ist es siedend heiß. Und auf dem Boden schwappt ein Gemisch aus
Abwasser, Farbe, Bleiche ... und versickert am Ende irgendwie, irgendwo
in der Erde.
|
Dritter Schritt: Einfärben über offenem Feuer |
|
Vierter Schritt: Auswaschen und Trocknen |
|
Schwarz gefärbte Seide |
|
Der Boden danach ... |
Der Besuch nahm dann ein etwas unerwartetes Ende, da wir anscheinend Bilder machten, die wir nicht hätten machen dürfen und ein leicht ungehaltener Herr unsere Kameras durchsuchen und einzelne Fotos löschen wollte. Dank der Verhandlungskünste von Sathish, dem Koordinator für all unsere Aktivitäten rund um Chennai, ging es aber glimpflich aus und bis auf zwei blieben mir alle Bilder erhalten.
Als wir am Abend aus Kanchipuram zurückkamen, ging es mehr oder weniger direkt zum Bahnhof und dort in den Nachtzug nach Madurai, wo wir dieses Wochenende verweilen. Nach zwei Wochen Indien und zwei Wochen nahezu unentwegten Beisammenseins entwickelt sich in der Gruppe allmählich eine Art Lagerkoller. Der Ton wird ruppiger und die Stimmung kippt sehr viel häufiger als noch zu Anfang. Meist ist es nicht weiter tragisch und schnell wieder vergessen. Zumal wir uns allesamt in derselben Situation befinden und ein gelegentliches Überkochen der Gefühle durchaus nachvollziehbar ist. Allerdings hat auch das Überkochen seine Grenzen, ebenso wie ich. Da hilft dann auch jegliches Ein- und Ausatmen nichts mehr. Die Zeit bis zu unserer Hospitation wird diesbezüglich sicherlich noch einmal eine Herausforderung, da wir uns für die nächsten drei Wochen zu zweit ein Zimmer teilen. Das könnte emotional und zwischenmenschlich durchaus spannend werden.
Wegen ebendieser Spannnung bin ich gerade auch auf die Dachterrasse geflohen, die ich nun aber verlassen werde, da soeben eine Maus oder Ratte von der Mauer nebenan hinabsprang und hinter mir vorbeihuschte. Und dem Fiepen und anderen Geräuschen in meinem Rücken nach zu urteilen ist sie nicht die einzige. Ein eindeutiges Zeichen fürs Bett.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen